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Ursula Probst

Prekäre Freizügigkeiten. Sexarbeit im Kontext von mobilen Lebenswelten osteuropäischer Migrant*innen in Berlin

(Kultur und soziale Praxis), Bielefeld 2023, transcript, 282 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-6600-7


Rezensiert von Olga Reznikova
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.10.2025

Die Studie von Ursula Probst beschäftigt sich mit einem in den feministischen Bewegungen und Gender Studies wohl am kontroversesten diskutierten Thema: Sexarbeit beziehungsweise Prostitution beziehungsweise käuflicher Sex. Die gewählten Begrifflichkeiten in den Forschungsarbeiten (und anderen Textsorten) funktionieren oft als eindeutige Hinweise auf die feministische Positionierung, ob die Tätigkeit der begleiteten Akteurinnen1 als Gewalt, als selbstbestimmte Arbeit oder sogar als Empowerment zu analysieren ist. In ihrer Arbeit erhebt Probst den Anspruch, die polarisierenden Haltungen und die emotionale Aufladung der Begriffe zu umgehen und – anstatt sich als Feministin zum einen oder zum anderen Programm zu bekennen – „in erster Linie […] Einblick in die heterogenen Lebensrealitäten sexarbeitender Migrantinnen aus ‚osteuropäischen‘ Ländern in Berlin [zu geben]“ (22). Denn, so ist Probsts Argument, „die emotionale Aufladung der Debatte“ erschwert zugleich die Kritik an „scheinbaren Gewissheiten“ in den jeweiligen Grundannahmen über „freiwillige Sexarbeit“ beziehungsweise „Zwangsprostitution“ (64). Der Weg, auf dem Probst dies erreichen möchte, ist die permanente (selbst-)kritische Reflexion, die poststrukturalistische Machtanalyse und die kritische Begleitung der medialen Diskurse.

Empirisch geht das Forschungsprojekt der „Suche nach sexuellen Subjektivitäten zwischen Liberalisierung und Kommodifizierung“ (171) nach und untersucht die Lebens- und Arbeitsrealitäten von sexarbeitenden Migrantinnen aus osteuropäischen Ländern in Berlin. Dafür ethnografiert Probst auf dem Straßenstrich im Berliner Kurfürstenkiez und führt narrativ-biografische Interviews sowie informelle Gespräche mit insgesamt 45 Personen, die auf dem Straßenstrich, in Bordellen, im Escortbereich und in Stripclubs tätig sind. Die Empirie wurde zwischen Juli 2017 und August 2018 durchgeführt. Im Anhang findet sich zudem ein Überblick über die soziodemografischen Merkmale der Gesprächspartnerinnen.

Das Buch ist gegliedert in fünf inhaltliche Kapitel sowie einen Prolog, eine theoretische und eine methodische Einführung, ein Fazit, ein Nachwort und Anhänge. Die inhaltlichen Kapitel nehmen insgesamt knapp die Hälfte des Buches ein. Die Stärke des Textes liegt eindeutig in den feinsinnigen, empirischen Beschreibungen, die von der Nähe zu den Forschungsteilnehmerinnen zeugen, ohne dabei die strukturelle und gesellschaftliche Ebene aus dem Blick zu verlieren. Probst gelingt es, sexarbeitende Migrantinnen nicht als Opfer oder Heldinnen zu stilisieren, sondern überzeugend als handelnde Subjekte mit widersprüchlichen Positionierungen – zwischen ökonomischem Zwang, strategischer Anpassung und dem Wunsch nach Selbstbestimmung.

Der große forschungsethische Anspruch, Machtverhältnisse und eigene Projektionen zu reflektieren und selbstkritisch zu markieren, ja sogar Reflexion als zentrales Mittel der Forschungserfahrung in die Hypothesenbildung einzubeziehen (56), nimmt vom Prolog über alle Kapitel bis zum Nachwort eine prominente Stelle ein. Doch bis zum Schluss bleibt für die Leserinnen unklar, wie genau diese kritische Reflexion in der Forschungspraxis erfolgte und welche Annahmen die Analyse in welchem Maße beeinflusst haben. So etwa schreibt Probst über einen Spielraum bei der Auswahl der empirischen Passagen für Analyse und Verschriftlichung. Der Umgang mit diesem Spielraum, so die Autorin, sei „kritisch zu reflektieren, da sich auch darin eine politisch relevante Dimension verbirgt; nämlich in der Frage, welchen Erfahrungen in wissenschaftlichen Arbeiten Raum gegeben wird und welche Implikationen dies für wissenschaftlich fundierte Debatten um Sexarbeit hat“ (54). Doch welche politisch relevante Dimension in welchem Auswahlprozess hier genau gemeint ist, warum sie kritisch zu reflektieren sei – und vor allem, was daraus konkret für die Analyse folgt – bleibt weitgehend nur angedeutet, wie auch an vielen anderen Stellen, an denen der selbstkritische Umgang als Notwendigkeit verkündet wird. Diese permanenten Andeutungen, dass die Forscherin als eine „weiße Frau mit muttersprachlichen Deutschkenntnissen und akademischem Hintergrund“ (45) in einem „ambivalenten“ und „stigmatisierten“ Feld eine besonders kritische und besonders reflektierte Position einnimmt, wirken auf Dauer ermüdend – nicht, weil das Feld keine kritische und sensible Forscherin erfordern würde, sondern weil über die bloße Betonung der Wichtigkeit von Reflexion und kritischer Positionierung hinaus keine weiterführende analytische und methodische Einlösung erfolgt.

Durch ethnografische Feldforschung zeigt die Autorin, dass sexarbeitende Migrantinnen zwar formell von der europäischen Mobilitätsfreiheit profitieren, zugleich aber von sozialer Ausgrenzung und prekären Arbeitsbedingungen betroffen sind. Der Berliner Stadtraum – insbesondere der Kurfürstenkiez – wird zum Ort, an dem gesellschaftliche Konflikte über Moral, Migration und urbane Ordnung ausgetragen werden. Ein großes Anliegen von Probst ist es dabei, auf die „europäischen Hierarchien“ hinzuweisen und die Stigmatisierung von Osteuropa und osteuropäischen Migrantinnen als eine Form von Rassifizierung – im Sinne eines „Nicht-ganz-weiß-Seins“ – zu problematisieren. Mit der Sorge um eine „Abwertung ‚Osteuropa‘“ beginnt (13) und endet das Buch (248).

Dieser starke Fokus auf die Stigmatisierung des Ostens durch den Westen ist nicht durchgehend nachvollziehbar. Und zwar auf zwei Ebenen: Erstens bleibt die Bedeutung des russischen Imperialismus sowie der (pro-)russischen neokonservativen Ideologie für Migration, Sexarbeit und die ideologische Hierarchisierung innerhalb Osteuropas analytisch unbeachtet. Auch bleibt unerwähnt und unreflektiert, dass die russische Propaganda genau diese kritische Haltung gegenüber einer vermeintlich „westlichen antislawischen Narration“ instrumentalisiert – und zwar im Dienst einer nationalistischen, antimodernen, antiwestlichen und heterosexistischen Ideologie, die letztlich im Angriffskrieg gegen die Ukraine kulminierte. Die Anschlussfähigkeit des Arguments allein sagt zwar noch nichts, aber es fällt auf, dass gerade in einer sonst sehr differenzierten und um Absicherung bemühten Arbeit an diesem Punkt keine politischen Überlegungen angestellt werden. Die politischen Implikationen der Aussagen sowie die Bedeutung des Putinismus für innerosteuropäische Hierarchien und weibliche Migration waren bereits in den späten 2010er und frühen 2020er Jahren – als Probst ihr empirisches Material erhoben und den Text verschriftlicht hat – deutlich erkennbar. Zudem wurden mehrere Textpassagen – etwa Teile der Einleitung, des Fazits, des Prologs und des Nachworts, in dem die Sorge über die Abwertung Osteuropas formuliert wird, – offensichtlich nach Beginn des großflächigen russischen Angriffs auf die Ukraine abgeschlossen.

Und zweitens bleibt teilweise unklar und nicht immer plausibel, was mit bestimmten Begriffen gemeint ist. Zum Beispiel kritisiert die Autorin beim Begriff „Antislawismus“, der eine Form der Rassifizierung von Slawinnen bezeichnen soll, an einer Stelle völlig zurecht, dass dieser Begriff „für die Beschreibung kontemporärer Prozesse nur bedingt angebracht [ist], da er selbst die Existenz eines kollektiven ‚Slawentums‘ suggeriert“ (24). Aber einige Seiten später (142–143) hilft genau dieser Begriff, die behauptete Rassifizierung der Akteurinnen zu erklären, ohne dass die Leserinnen nachvollziehen können, wie die Autorin die Grenzen und Limitationen des Begriffs in ihrer Analyse berücksichtigt. Mithilfe des Begriffs wird auch dann ein „Nicht-ganz-weiß-Sein“ oder Betroffensein von Ost-West-Hierarchien (145–146) festgestellt, wenn die Akteurinnen es selbst verneinen.

Insgesamt ist es also etwas irritierend, wenn zuerst die Kritik und dann die Verwendung eines Begriffs vorgenommen werden. Dadurch entsteht der Eindruck einer Überbetonung der Perspektive der slawischen Migrantinnen, wobei bis zum Ende nicht ganz klar wird, wie sich die Kategorien „Nicht-ganz-weiß-Sein“, „Migrantinnen aus osteuropäischen Ländern“, „Selbstidentifizierung als osteuropäische Migrantin“, „slawische Person“ usw. zueinander verhalten. Wir erfahren lediglich, dass sie alle ambivalent, schwierig und konstruiert sind – doch was genau damit gemeint ist und wie sich die analytischen Kategorien zu den Feldkategorien und vor allem zu den aus Sicht der Autorin kritisch zu bewertenden gesellschaftlichen Kategorien verhalten, bleibt oft unklar. Letztlich sind die deskriptive, die analytische und die problematisierende Ebene nicht eindeutig voneinander abgegrenzt.

Besonders deutlich wird das bei der zentralen Kategorie des Buches: „die osteuropäische Migrantin“. Diese sei keine reale Gruppe, sondern eine diskursive Konstruktion, an der sich europäische Hierarchien ablesen lassen. Mit ihrem Buch möchte Probst unter anderem zur Aufklärung über die Konstruktion des imaginierten Raums „Osteuropa“ beitragen. Doch in Kapitel 2, in dem sie über das Forschungsdesign Auskunft gibt, wird deutlich, dass sie diejenigen Sexarbeiterinnen zur Teilnahme am Forschungsprojekt einlädt, „die bestimmte Osteuropa zugeschriebene Länder als ihre Herkunftsländer nannten und dort geboren und aufgewachsen waren“ (46). Das bedeutet, dass bereits bei der eigenen Konstruktion des Feldes ein Begriff verwendet wird, der eigentlich dekonstruiert werden sollte. Im Laufe der Studie bezeichnet die Autorin die Gesprächspartnerinnen als „osteuropäische Migrantinnen“, auch dann, wenn diese Kategorie für die jeweilige Person explizit keine Relevanz besitzt. Für die Leserinnen bleibt unklar, ob es sich bei dieser Gruppe um eine tatsächlich existierende soziale Kategorie handelt, die sich beispielsweise durch Selbstidentifikation und/oder geteilte Erfahrungen konstituiert – oder ob sie lediglich eine westeuropäische Projektion ist. Im ersten Fall stellt sich dann die Frage, wie genau sie sinnvoll definiert werden kann (z. B. Geburtsort, Aufwachsort, Staatsbürgerschaft, Staatsbürgerschaft bei Geburt, Selbstidentifizierung). Im Buch bleiben diese Fragen offen. An anderer Stelle des Buches wird „Osteuropa“ wiederum als eine Form des Othering verstanden (z. B. 139–141) oder als eine westeuropäische Idee, die lediglich soziale Ängste und neoliberale Raumordnung legitimiert (95–96). Menschen mit biografischem Bezug zu osteuropäischen Ländern als Gruppe zu konstruieren, deren Herkunft für die Analyse von Sexarbeit in Berlin als relevant vorauszusetzen und die Gesprächspartnerinnen entsprechend auszuwählen – um dann in der Analyse festzustellen, dass eine Zuschreibung als „osteuropäisch“ eine Form des Othering ist und dass sie eine zentrale Kategorie für die „osteuropäische Sexarbeiterin“ sei, – ist ein Beispiel für eine zirkuläre Argumentation im Buch.

Differenziert und pointiert sind dagegen die Teile der Arbeit, in denen es konkreter wird. In Kapitel 3 und 4 wird mit analytischer Stringenz, originellen Fragestellungen und durch Empirie sehr einleuchtend gestützte Analyse gearbeitet. In Kapitel 3 arbeitet Probst einerseits heraus, wie sexarbeitende Frauen – insbesondere aus Osteuropa – medial und politisch als „Störung“ einer „geordneten Stadt“ inszeniert werden. Ihre Körper gelten als „unordentlich“, nicht kontrollierbar, moralisch bedenklich; ihre bloße Präsenz auf der Straße wird als Bedrohung für die Stadtästhetik wahrgenommen. Die Autorin zeigt aber gleichzeitig, wie diese gegenwärtigen Stigmatisierungen der Sexarbeiterinnen und die Erfahrungen ihrer Akteurinnen im Kontrast zu den romantisierenden, historischen Bildern in medialen Repräsentationen von Sexarbeit (z. B. in der Serie „Babylon Berlin“) stehen. Es zeigt sich also ein Spannungsverhältnis zwischen Glorifizierung vergangener und Ablehnung gegenwärtiger Sexarbeit (79–83), das in einem nächsten Schritt mit der Analyse der Gentrifizierung des Viertels verbunden wird. Osteuropäische Sexarbeiterinnen werden als „nicht passend“ für das neue urbane Image betrachtet und geraten so in Konflikt mit Nachbarschaftsinitiativen, die Sauberkeit und Sicherheit fordern – meist auf Kosten der Lebens- beziehungsweise Arbeitssicherheit der Sexarbeiterinnen (90–98).

In Kapitel 4 analysiert die Autorin zudem, wie Vorstellungen vom „guten Leben“ und persönlichem Aufstieg im neoliberalen Europa eng mit westlich geprägten, oft unerreichbaren Normen verbunden sind. Sie beschreibt verschiedene Lebensentwürfe, Träume sowie die parallel zur Sexarbeit ausgeübten prekären Beschäftigungen und zeichnet damit ein Spannungsfeld zwischen den Autonomieansprüchen der Akteurinnen und ihrer strukturellen Marginalisierung. Sexarbeit erscheint in Probsts Analyse dabei nicht nur als Einkommensquelle, sondern auch als Ausdruck strategischer Anpassung an restriktive neoliberale Arbeitsmärkte.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die Grundlage des Buches eine umfangreiche und gründliche empirische Untersuchung bildet, die mit großer Empathie gegenüber den Akteurinnen und dem ernsthaften Bemühen um ethnografisches Verstehen durchgeführt wurde. Mehrere empirische und analytische Zusammenhänge sind neu für die Forschungsliteratur und zeigen ein großes Potenzial für die weitere Prekarisierungs-, Sexarbeits- und Stadtforschung. Doch an mehreren Stellen bleibt das Verhältnis zwischen subjektiver Erfahrung und struktureller Analyse vage. Neben der bereits erwähnten plakativen Kritik am Eurozentrismus wird im Buch ein starker Akzent auf Agency gesetzt, sodass sich bei der Lektüre die Frage stellt, ob es der Autorin tatsächlich um die Ablehnung der „scheinbaren Gewissheiten“ beider feministischer Positionen geht. Gleichzeitig bleibt das wohl stärkste Argument für die vollständige Entkriminalisierung jeglicher Form von Sexarbeit – nämlich die Auswirkungen der Kriminalisierung auf Abschiebungspraxen und Grenzregime sowie konkrete aufenthaltsrechtliche Konsequenzen der Stigmatisierung – bei Probst weitgehend unberücksichtigt. Die Arbeit ist trotz allem ein wichtiger Beitrag zur kulturwissenschaftlichen Erforschung von Sexarbeit und bringt wichtige methodische, empirische und theoretische Impulse in diesem Forschungsfeld.

 

Anmerkungen

 

 

1 Aufgrund der strikten Vorgaben der Kommission für Bayerische Landesgeschichte bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften können im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde seit 2023 keine Texte publiziert werden, die eine trans- und nonbinärinklusiv gegenderte Schreibweise nutzen. Daher setze ich in meiner Rezension das generische Femininum ein, bitte die Leserinnen aber, ein Sternchen bzw. einen Unterstrich hinzuzudenken. Die Protagonistinnen des hier besprochenen Buches sind überwiegend Cis-Frauen, aber nicht ausschließlich.