Aktuelle Rezensionen
Bernhard Siegert
Kulturtechniken: Rastern, filtern, zählen und andere Artikulationen des Realen
(Theorie und Geschichte der Kulturtechniken, Bd. 1), Baden-Baden 2023, Rombach Wissenschaft, 362 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-98858-005-4
Rezensiert von Anne Dippel gemeinsam mit Zehra Akin, Lea Ansmann, Leon Bode, Jule Hansen, Frederik Iden, Maria Köhls, Luca Scheibe, Helene Scheler, Anastasia Steinhorst, Inga-Brit Turschner, Elina Winkler (HBK Braunschweig)
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.10.2025
Die Volkskunde, welche ihre Anfänge im deutschsprachigen Raum gerade auch im Philologischen sucht, ist lange Zeit von Medienblindheit geschlagen gewesen. Zwar bemühte sich das Fach stets, die symbolische Ordnung in der Beschreibung des Realen aufzunehmen, doch schon der Akt der ethnografischen Notation selbst blieb dabei oft in seiner welterzeugenden Konstitution unreflektiert. Dass Kulturen als humanoid-technoide Hybride gefasst werden können, die Kategorien wie Natur und Kultur durch technische Objekte und Handlungsketten (inklusive Gesten) in Akteur-Netzwerken herstellen (S. 127f.), blieb lange Zeit unreflektiert. Das zeigt sich etwa in der Fixierung auf einen anthropozentrischen Technikbegriff und das vom Werkzeug her stammende Verständnis desselben, wie es noch die Schriften von Hermann Bausinger und sogar die Arbeiten von Stefan Beck prägt. Nur zögerlich setzte ein mediales Verstehen ein, zwar dominiert von einem Praxisbegriff, immerhin jedoch vor allem von Thomas Hengartner, Gertraud Koch, Johanna Rolshoven und Klaus Schönberger maßgeblich vorangetrieben. Dadurch öffnete sich die EKW für einen Kulturtechnikbegriff, der das Menschsein und Nichtmenschsein präfiguriert, gleichsam stimmt und bestimmt, scheidet und differenziert – und rückt die Disziplin in eine große Nähe auch zur Medientheorie.
Denn im Gegensatz zur EKW und parallel zu ihr entwickelte sich im deutschsprachigen Raum – ebenfalls aus der Philologie heraus – eine spezifische Formation der Medienwissenschaft, die philologische Perspektiven, Medientheorie mit Psychoanalyse und Poststrukturalismus zu verquicken vermochte. Sie war besonders prominent von Friedrich Kittler geprägt. Dieser verschränkte auf freche Art Schaltkreise, Dichtung und Unbewusstes miteinander, um so die operationale Wirkmächtigkeit von Medien zu deuten. Dabei buchstabierte, lötete und codierte er vor allem den Einfall von Friedrich Nietzsche aus – damals schon vom Syphilis-Wahn gezeichnet –, nämlich: dass die Werkzeuge an unseren Gedanken mitschreiben. Er konstatierte: „Medien bestimmen unsere Lage“ und entwickelte eine poststrukturalistische Systemtheorie, die in dem von Daniel Paul Schreber (dem Sohn des Schrebergarten-Erfinders) im Irrenhaus geprägten Begriff „Aufschreibesysteme“ kulminiert. Der Wahnsinn und die Anstalt, so zeigte schon Michel Foucault, sind zentrale Dispositive der Moderne und Postmoderne – Dispositive, an denen im Symbolischen das aufscheint, was aus dem Realen verbannt wurde: die Macht der Medien, der Dispositive und der Strukturen. Oder wie Bernhard Siegert in seinem Werk „Kulturtechniken“ schreibt: „Das Reale soll wie ein Gespenst behandelt werden. Nur das Symbolische existiert oder ist wirklich.“ (109)
Der Weimarer Medienwissenschaftler Siegert, beinahe emeritiert, war während Promotion und Habilitation Friedrich Kittlers Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er hat – in Abgrenzung und Fortentwicklung dieses mächtigen und beeindruckend schönen wissenschaftlichen Dispositivs der „Deutschen Medienwissenschaft“ – den Begriff der Kulturtechnik maßgeblich weiterentwickelt und von seinem Lehrmeister emanzipiert, wie das vorliegende Buch zeigt. Hier sind Schlüsselszenen der Kulturtechnikgeschichte mit Figuren der Medientheorie zusammengebracht. Auf der Basis einer breiten Quellenlage zeigt er, inwiefern – wie es Thomas Macho 2003 in „Zeit und Zahl“ formulierte – „Kulturtechniken – wie Schreiben, Lesen, Malen, Rechnen, Musizieren – [...] stets älter als die Begriffe sind, die aus ihnen generiert werden.“ (88). Dabei setzt er auf einer Ebene der Untersuchung an, die in der Empirischen Kulturwissenschaft bloß über den Praxisbegriff in den Blick genommen wurde, selten jedoch ins Philosophische ausgriff. Das vorliegende Buch könnte hierbei als Pharmakon dienen.
Der Begriff der Kulturtechnik ist unter anderem von Thomas Macho, aber eben auch von Bernhard Siegert maßgeblich geprägt, das vorliegende Werk besitzt somit Grundlagenqualitäten. Mit großer Liebe zum Detail vermittelt der Autor hier einen umfassenden Einblick in die Historizität des Begriffs und dessen Bedeutung innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Diskurse (Mathematik, Anthropologie, Medienwissenschaft/-theorie, Philologie usw.). Das Werk besticht durch klare Argumentationen, aufbauend auf den stabilsten Gedankengebäuden der Geistesgeschichte, Rhetorik und Mathematik, und ausgehend von alltäglichen Praktiken wie u. a. Essen und Hausen. Dabei tritt zu Tage, inwiefern Kulturtechniken das Verhältnis der Materialität und ihrer symbolischen Welterzeugungskraft sichtbar werden lassen, menschliches Dasein fundamental prägen. Die breite Fülle der Beispiele unterstreicht diese Einsicht und schenkt dem Ganzen einen anwendungsbezogenen Hintergrund. Kulturtechnik als Konzept wird nicht als endgültige Tatsache betrachtet, sondern fundiert erarbeitet, sodass es sich „seinen Platz verdient“.
Der Inhalt des Buches ist somit ein Gewinn für im Denken oft „zu kurz geratene“ Disziplinenverbünde, wie die ethnologisch operierenden Fächertraditionen, eben weil durch ihn eine positivistische Haltung, auch in der Ethnografie, als das entlarvt wird, was sie ist – nämlich bloß die symbolische Iteration eines Ichs, das – eben nicht in der Nervenheilanstalt, sondern der Bildungsanstalt der Hochschule – ihr oder sein Denken mittels Kulturtechniken auf der Basis von verschiedenen Operationen verschriftlicht, dezentriert, weil es eingebunden in ein Netzwerk und operierend in komplexen Prozessen ist. Gewiss, der Kanon der Bildung, der hier erwartet wird, ist ein bürgerlicher und gehört vor diesem Hintergrund kapitaltheoretisch gut reflektiert, mag den „Kleinbürgerinnen und Kleinbürgern“ der EKW zuweilen befremdlich erscheinen und auf innere Abwehr treffen. Doch wissen eben diese besser als alle anderen, weshalb ihnen die Ordnung ihres Hauses so wichtig ist, bis hin zur Falte im Kissen auf dem Sofa: Weil sie nie Herr/Frau im eigenen Haus sein werden. Anstatt sich also in der einfältigen Wiederholung des Unbewussten zu üben, können sie hier die Mannigfaltigkeit der „Artikulationen des Realen“ (101) begreifen. Sie können verstehen, was das Reale im Verhältnis zum Symbolischen und Imaginären überhaupt heißen kann – und wie dabei Mensch und Nicht-Mensch, Natur und Kultur, Rohes und Gekochtes durch Operationen und ihre Verkettungen überhaupt erst geschieden, gefiltert, gezählt und hergestellt werden. Das Wissen in diesem Buch steckt voller epistemischer Falten, die sich von Kapitel zu Kapitel in immer komplexerer Mannigfaltigkeit zeigen. Es birgt einen Weg des Denkens, der Selbstwirksamkeit und Handlungsmacht schenken kann – auch in der Lehre.
Die hier vorliegende Rezension zeigt das schon, ist sie doch ein didaktisches Ergebnis und beruht auf gemeinsamer Seminararbeit mit Studierenden, von denen eine schreibt: „Teilweise sind die Kapitel erst verständlich, wenn das/die darauffolgende(n) Kapitel gelesen werden, wodurch ein nicht-lineares Lesen deutlich erschwert wird – dennoch kann dies auch als ‚Pluspunkt‘ verstanden werden, da dadurch neue Fragen/Erkenntnisse eröffnet werden, was anderen Texten nicht gelingt.“ Ein anderer Seminarteilnehmender meint: „Durch die breite Fächerung der Themen und Aspekte gibt es oft Sachen, die unklar oder schwer zu verstehen sind. Nach jedem geklärten Begriff kommt wieder ein neuer Begriff, der ein Fragezeichen in meinen Kopf wirft. Nach dem Lesen eines Kapitels ist der gemeinsame Diskurs darüber sehr wichtig für mein Verständnis.“ Und eine dritte Teilnehmende schließt sogar: „Siegert fundiert seine Theorie auf vielen bereits bekannten Theoretikern/Philosophen, allerdings rückt er diese eigentlich bekannten Tatsachen mit der von ihm postulierten Kulturtechnik in ein völlig neues Licht und zeigt auch Stellen auf, die bisher in anderen Behandlungen zu kurz gekommen sind. Grundsätzlich ermöglicht es eine neue, viel fundamentalere Sicht auf viele Bereiche der Kultur- und Medienwissenschaften (Kulturtechnik als Mischung aus diesen Wissenschaften?). Das Buch sollte gelesen werden, da es das allgemeine Weltverständnis hinterfragt und auf eine neue Weise mit den Kulturtechniken klassifiziert. Es eröffnet einen Diskursraum. Trotz seiner intensiven Dichte kann sich darauf verlassen werden, dass Siegert Wert auf historisches und wissenschaftliches Verständnis in Form der Ausarbeitung des Begriffs legt.“ Eine erste Lektüre mag „exklusiv“ wirken, herausfordernd – nicht nur wegen der theoretischen Tiefe, sondern auch, weil viele Begriffe und Zusammenhänge ohne größere Einordnung vorausgesetzt werden. Und doch ermöglicht sie Lesenden, insbesondere in der Seminargemeinschaft, neue Wege des Denkens zu gehen, die auch für das Verständnis aktueller politischer Ereignisse erdende und ordnende Erkenntnisse bereithalten. Das gilt selbstverständlich auch für das ethnografische Wissen, da hier Dimensionen eröffnet werden, die der Kulturanthropologie meist verstellt bleiben (wodurch ein fatales Verkennen im Akt des Erkennens mitläuft). Die Kulturanthropologie, so tief eingebunden in die Linien des hermeneutischen Denkens, projiziert bis in das Spurenlesen und Fallenstellen von agropastoralen Gesellschaften die Macht des Realen und die Idee des handelnden Ichs. Die Dekodierung des Symbolischen löst hier eine Dezentrierung aus, die den Fokus auf nicht-anthropogene Techniken des Anthropologischen freigibt und aus ihrer Verkapselung löst.
Zwar mag die Lektüre für medienwissenschaftlich Ungeschulte eine Herausforderung darstellen – doch erscheint sie vor dem Hintergrund des noch immer vorherrschenden mangelnden Verständnisses eines „nicht-anthropogenen Kerns“ (88) aller Kulturtechniken gleichsam als eine Pflichtlektüre, insbesondere für die EKW. Eine schiere Freude bereitet es, Beispiele aus vergangenen und gegenwärtigen Kulturen aufzunehmen, über Türen (Kapitel 5), Vorhänge (Kapitel 6), Adressieren (Kapitel 7), Entwerfen (Kapitel 8), Authentifizieren (Kapitel 9) oder Essen (Kapitel 10) neu nachzudenken. Dabei lernen die Lesenden mehr über anthropologische Differenz (Kapitel 11), verstehen, dass bei aller Fusionierung von Mensch und Maschine eben Menschen Menschen und Maschinen Maschinen sind, was gut so ist und selbst wieder den Blick auf den Schlüsselbegriff des Buches, die Kulturtechniken, freigibt, weil es erst Kulturtechniken sind, die solcherlei diskreten Unterscheidungen hervorbringen. Das Buch birgt Erkenntnisse, die einen mit neuen Horizonten erfüllen. Insbesondere in der Digitalen, wo sich das Denken in und durch das Öffnen und Schließen von Schaltkreisen, die Aufeinanderfolge von Operationsketten und Elementen der Progression durch posthumane Akteurinnen und ihre agencements als paradigmatische Struktur prägt, ist es notwendig, mehr über kulturgenerierende Operationen zu verstehen, wie Filtern (Kapitel 1), Auslassen (Kapitel 2), Zählen (Kapitel 3) oder Digitalisierung – als Codierung des Realen (Kapitel 4). Umso mehr, da in Zeiten informationeller Inflation, die die „Krise der Referenz“ noch ausweitet, welche durch die „Einkapselung des Unsinnigen“ durch Codierung mit ausgelöst wird, eignen sich „Kulturtechniken“ auch als Grundlage für ein Lektüreseminar, obwohl sie vieles voraussetzen. Studierende lernen hier lesen und recherchieren. Sie lernen, dass Texte eine innere Unendlichkeit des Polysemischen produzieren, was wiederum dazu führt, die eigenen Gedanken zu schärfen und zu entwickeln. Sie begreifen, dass ihr Handeln von Kulturtechniken mitgesteuert wird und lernen, diese zu meistern.
So vermittelt sich der Nexus von Sinnabgründigem und Sinnwirkendem durch ein Denken, das keinen Menschen in einer platonischen Höhle des A-historischen einsperrt und niemanden in den positiven Illusionen des Historischen teleologisch einnordet. Gerade weil Kulturtechniken mittels einer antihermeneutischen Haltung jene Sinn-losen Abgründe des Materiellen, Technischen, Digitalen offenbaren, nützt dieses Buch, um menschliche Sinnzusammenhänge, Symbolisierungsweisen und Realitätsbezüge zu verstehen. Bernhard Siegerts „Kulturtechniken“ ist somit auch ein Sesam-Öffne-Dich – selbst voller verkapseltem Wissen, das sich aber entbergen lässt, das die Verkörperung von mannigfaltigen Kulturtechniken darstellt. Es stammt aus dem Olymp des Denkens und ermöglicht all denen, die es wagen, selbst ins Tal der Musen zu steigen und die höchsten Berge des Verstehens zu erklimmen, um über ihren eigenen Horizont hinauszuwachsen. So kann hier etwas beginnen, das sich im Kern des Wissenschaftlichen verbirgt: der Wunsch zu verstehen, die Freude an der Erkenntnis und den Zauber des Denkens zu erleben – im transgenerationalen Miteinander als Form eines libidinös-produktiven, zutiefst befriedigenden Begreifens.