Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Günter Koch (Hg.)

Der Raum Passau zur Reformationszeit. Ein regional-konfessioneller Kontrapunkt zur „Luthermania“ 2017

(Literatur – Sprache – Region 10) Berlin 2024, Peter Lang, 438 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Vito Conego
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 28.11.2025

Der von Günter Koch herausgegebene Sammelband „Der Raum Passau zur Reformationszeit. Ein regional-konfessioneller Kontrapunkt zur ‚Luthermania‘ 2017“ verfolgt drei Intentionen: Erstens, sich gegen eine „Luthermania“ zu wenden, die 2017 für eine Schieflage zwischen der historischen Person und der medialen Figur Martin Luther gesorgt habe. Zweitens, einen Beitrag zur Dezentralisierung der Reformationsforschung zu leisten. Drittens, der Öffentlichkeit zu „zeigen, dass auch im katholischen Süden, selbst in Passau mit seinem die Altstadt dominierenden Dom, die Reformation bedeutsam war […]“ (S. 10 f.). Als eine vierte – implizite – Intention des Bandes kann die Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit der Sprachwissenschaften und der Geisteswissenschaften erachtet werden. Die Beiträge befassen sich mit der Reformationszeit im Raum Passau unter besonderer Berücksichtigung der Familie Paminger und der benachbarten Reichsgrafschaft Ortenburg. Hinzu kommen theologische, sprach- und musikwissenschaftliche Beiträge mit regionalem Fokus sowie Kontextualisierungen der Reformationszeit sowohl in historischen Zusammenhängen als auch in modernen Diskursen.

Der Sammelband geht auf ein Symposium im Oberhausmuseum Passau der Veste Oberhaus im Jahr 2017 zurück und setzt sich aus 17 Aufsätzen zusammen. Mario Puhane nähert sich dem komplexen und emotional aufgeladenen Streit um das ehemalige Logo der Universität Passau durch eine anschauliche Einbettung in den historischen Kontext und reflektiert dabei die kritische Arbeit mit Quellen. Die konfessionelle Aufladung der jesuitisch vereinnahmten „Maria vom Siege“ dient als historische Grundlage für die Aufarbeitung des Madonnenstreits, der schließlich darin mündete, dass ein neues Universitätslogo gestaltet wurde. André Rottgeri und Tomas Sauer diskutieren Hypothesen, in welchem Teil der Veste Oberhaus der wiedertäuferische „Ausbund“ verfasst wurde. Die noch heute in den USA verwendeten Versionen lassen sich auf die mündlichen Überlieferungen der Gefangenen auf der Veste zurückführen. Sandra Reimann ordnet ausgewählte Werbekampagnen ein, die anlässlich des Jubiläums 1517 gestartet wurden, und widmet sich dabei auch der geringen Effektivität der Kommunikation mit den adressierten Personen. Hans Krah analysiert einen Roman der Kinder- und Jugendliteratur (KJL), der im Passau der Reformationszeit spielt, und kommt zu dem Schluss, dass „der regionale Bezug vielleicht doch nur funktionale Ummantelung ist“ (S. 89). Am Roman sei nichts spezifisch für Passau und auch den Kriterien der KJL werde er nicht gerecht. Marc von Knorring analysiert, warum Fürstbischof Wolfgang I. von Salm um 1550 begann, sanfter mit Protestanten in Passau umzugehen. Er lehnt „eindimensionale Erklärungen“ (S. 114) ab und erarbeitet ein Geflecht von Einflüssen, das den Bischof zu einer Änderung des Vorgehens bewegt haben könnte. Martin Hille weitet den Blick auf den österreichischen und bayerischen Raum, in dem deutschsprachige Schriften astrologische Spekulationen einer bevorstehenden Flut anfeuerten. In Passau hingegen finde sich keine „breitere Erörterung“ (S. 143) in den Quellen. Winfried Becker analysiert die konfessionspolitische Ausgangslage der frühen 1550er-Jahre, die Ziele der Reichsfürsten und ihr Zusammentreten in Passau, die zur Trennung des Rechtsfriedens vom Glauben im Passauer Vertrag geführt haben. Thomas Frenz erläutert das Ablasswesen und die Anwendungsbereiche der daraus gewonnenen Finanzmittel in besonderer Anschaulichkeit. Fritz Wagner rekonstruiert die zahlreichen Wirkungsstätten des protestantischen Schulmeisters Sophonias Paminger im Raum Passau, der schließlich in der Reichsstadt Nürnberg einen sicheren Lebensmittelpunkt finden konnte. Ergänzend analysiert Markus Eberhardt das musikalische Werk Leonhard Pamingers, das weder durch die katholische noch die protestantische Seite zu vereinnahmen sei, da Paminger als Komponist unter beiderlei Einfluss bewertet werden müsse. Heinz-Walter Schmitz erarbeitet anhand der Schrift „Von den Corruptelen“ unter Einbeziehung der Transsubstantiationslehre die ausdrückliche Ablehnung des Calvinismus durch Leonhard Paminger. Hans-Werner Eroms rekonstruiert den sprachlichen Beitrag Georg Rörers in der Redaktion der Bibelausgabe von 1540, der sich eher indirekt ausgedrückt habe. Diese Analyse ergänzt er um die kritische Einordnung der berühmten Notiz von Rörer, deren Verwendung des Terminus technicus, dass Luther die Thesen „in valvis templorum“ angeschlagen habe, für die Authentizität des Thesenanschlags spreche. Christina Böhmländer und Manuela Krieger betten die Quellengattung der Lehensbriefe im regionalhistorischen Kontext ein, erläutern Form und Funktion, bevor sie die Urkunden sprachwissenschaftlich unter anderem auf Groß- und Kleinschreibung untersuchen. Es sei bereits eine gewisse Regelhaftigkeit in den Schreibweisen zu erkennen, die von 1510 bis 1663 zunehme. Rüdiger Harnisch untersucht die Techniken konfessionsbezogener Schmähungen, worunter sich die Remotivation besonderer Beliebtheit erfreut habe: Jesuiten – Jesubittern. Günter Koch ordnet Martin Luthers „Sendbrief vom Dolmetschen“ als Quelle ein, die nicht für Luthers Sprachschöpfung stehen könne. Stattdessen führt er Textstellen an, die er als eine von Intuition geleitete Polemik kennzeichnet. In Erweiterung der Analyse um die verfügbaren Texte über Leonhard Kaisers Tod kommt Koch zu dem Ergebnis, dass die südostdeutsche Schriftsprache nicht schlechter gewesen sei, „sondern prinzipiell erst einmal einfach nur anders“ (S. 379). Rudolf Sitzberger skizziert am Beispiel Graf Joachims von Ortenburg, wie regionalgeschichtliche Zugänge die Vermittlung im Religionsunterricht bereichern können. Irmhild Heckmann betont, dass Kirchen in Ortenburg, die beim landesherrlichen Wechsel zum Protestantismus bereits bestanden haben, keinen Bildersturm über sich ergehen lassen mussten und dass die bedeutendsten protestantischen Umbauten wie Neuausstattungen im frühen 18. Jahrhundert durchgeführt wurden.

Der Band versteht sich als wissenschaftliche Antwort auf die mediale und gesellschaftliche Beschäftigung mit der Reformation und Martin Luther im Jahr 2017. Er verortet sich in der Regionalgeschichte, bindet allerdings auch allgemeingeschichtliche Aspekte und – aufgrund der adressierten Leserschaft – immer wieder Aktualitätsbezüge ein. Somit nimmt der Sammelband dezidiert Aufgaben der Wissenschaftskommunikation wahr, indem er der interessierten Öffentlichkeit des Raums Passau die Lektüre teils komplexer Untersuchungsgegenstände ermöglicht. Die einzelnen Beiträge verfolgen jeweils theologische, geschichts-, sprach-, musik- oder literaturwissenschaftliche Ansätze, aus denen sich ein rundes Gesamtbild entwickelt. Daher bietet der Band zahlreiche Anknüpfungspunkte: Die Beiträge von Wagner (geschichtswissenschaftlich, konfessions- und mobilitätsgeschichtlich), Eberhardt (musikwissenschaftlich) und Schmitz (musikwissenschaftlich, theologisch) über verschiedene Mitglieder der Familien Paminger bilden das Herzstück und können stellvertretend für die Vielfalt der Aufsätze stehen. Becker konkretisiert die Aushandlungen des Passauer Vertrags und ihre Bedeutung in „einer Vorgeschichte der religiösen Grundrechte“ (S. 177). Er charakterisiert den Passauer Vertrag und den Augsburger Religionsfrieden als Scharnier, das die mittelalterliche Unterscheidung von temporalia und spiritualia und die Trennung des weltlichen Friedens vom religiösen Glauben in den Jahren 1552 und 1555 mit der vorherrschenden „Dualität und Komplementarität der abendländischen Zuordnung von Konfession und Politik“ (S. 177) verbindet. Christina Böhmländer und Manuela Krieger weisen die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lehensbriefe als bisher vernachlässigte Quellengattung aus. Koch zeigt, dass die historische Sprachwissenschaft sich kritisch mit ihrer Sprachbetrachtung und Vorannahmen auseinandersetzen muss. Er stellt zur Debatte, „ob sich die Sprachgeschichtsschreibung einseitig am Gewinner“ (S. 379), also der dominanten Varietät orientieren darf, die u.a. Luther verwendet hat. Er zieht den Analogieschluss zur Geschichtswissenschaft, die sich nicht mit der Geschichte der Sieger begnüge. Harnisch leistet einen Beitrag zur sprachwissenschaftlich fundierten Begriffsgeschichte im Donau-Isar-Raum, indem er schmähende Wortschöpfungen auf ihre Bildung untersucht.

Der Sammelband verkauft sich daher als „regional-konfessioneller Kontrapunkt zur ‚Luthermania‘ 2017“ unter Wert. Er setzt vielmehr einen eigenständigen regionalgeschichtlichen Fokus, dessen interdisziplinäre Konzeption in sich tragfähig ist und nicht des Gegenpols einer modernen „Luthermania“ bedarf, deren nennenswerte Ausprägung im breit aufgestellten Kultur- und Wissenschaftsbetrieb des „Reformationsjahrs 2017“ indes schon in der Einleitung verneint wird (S. 10). Der Band bietet vielseitige Analysen zur (Sprach-)Geschichte des Raums Passau in der Reformationszeit und beweist, wie Interdisziplinarität und Methodenvielfalt die wissenschaftlichen Disziplinen reziprok bereichern. Die Summe der Aufsätze bietet einen Querschnitt des Raums Passau; die Mehrzahl besticht durch analytische Tiefe und genaue Quellenkenntnis. Ein großer Verdienst des Bandes liegt darin, einer historisch interessierten Öffentlichkeit einen wissenschaftlichen Zugang zur Vielfalt der fächerübergreifenden Erkenntnisinteressen über den „katholischen Süden“ (S. 10) zu eröffnen. Die gezielte Einbindung von Grafiken und Tabellen unterstützt die Verständlichkeit. Ein Orts- und Personenregister hätte die systematische Orientierung im Band unterstützen können.