Aktuelle Rezensionen
Alma Hannig/Christian Meierhofer/Georg Mölich (Hg.)
1870/71. Der Deutsch-Französische Krieg in transnationaler, regionaler und interdisziplinärer Perspektive
(Deutschland und Frankreich im wissenschaftlichen Dialog 13), Göttingen 2024, V&R unipress, 483 Seiten
Rezensiert von Mareike König
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 02.12.2025
Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 hat im Umfeld seines 150. Jahrestags einen Aufmerksamkeitsschub erhalten. Der Anlass brachte nicht nur Ausstellungen, digitale Projekte und Bücher mit Überblickscharakter hervor, die vor allem auf die interessierte Öffentlichkeit zielten. Auch für die Fachcommunity bot er Gelegenheit, sich in Veranstaltungen und Forschungspublikationen über neue Zugänge und Erkenntnisse auszutauschen. In diesem Rahmen ist auch der vorliegende Sammelband entstanden, der aus Corona-bedingt digitalen Veranstaltungen des Kölner Stadtmuseums und der Universität Bonn der Jahre 2020/2021 hervorgegangen ist. Versammelt sind Zugriffe auf den Krieg 1870/71, die jenseits der Politik- und Militärgeschichte vor allem Wissenschafts-, Kultur-, Medien-, Musik- und Kunstgeschichte in transnationaler, regionaler und interdisziplinärer Perspektive sichtbar machen. Der regionale Schwerpunkt liegt auf dem Raum Köln-Bonn. Entstanden ist ein forschungszentrierter Sammelband auf durchgehend hohem Niveau.
Schon die über zwanzigseitige Einleitung des Herausgeberteams ist herausragend. Sie bietet eine dichte, systematisch gegliederte Übersicht zum neuesten Forschungsstand über den Deutsch-Französischen Krieg und erweist sich gleichermaßen als Einstieg und als vertiefende Orientierung. Besonders wertvoll sind die konsequente Einbeziehung und Bewertung der jüngeren französischsprachigen Literatur, einschließlich nicht publizierter Dissertationen, die im deutschsprachigen Raum sonst oft unberücksichtigt bleiben. Das Hauptaugenmerk des Forschungsüberblicks liegt – wie es die Ausrichtung des Sammelbands nahelegt – auf transnationalen, regionalen und interdisziplinären Perspektiven auf den Krieg 1870/71.
Nach diesem Überblick folgt der Band zunächst in Teil 1 den vertrauten Feldern der Politik und Militärgeschichte. Ulrich Lappenküper bietet einen profunden und quellengesättigten Überblick über Ursachen und Folgen des Kriegs im internationalen Staatensystem. Ute Planert profiliert das spannungsreiche Verhältnis zwischen Preußen und Nationalbewegungen seit 1815 und erinnert daran, dass die Wege des Kaiserreichs trotz der „Reichsgründung von oben“ in Kriegen mit ihren Hypotheken für die Innen- und Außenpolitik offenblieben.
Die drei anschließenden Artikel im ersten Teil folgen dem Ansatz einer Militärgeschichte von unten: Oliver Stein untersucht die Begegnungen zwischen deutschen Soldaten und französischer Zivilbevölkerung in Krieg und Besatzung. Neben Requisitionen, Plünderungen und wechselseitiger Gewalt zeigen Egodokumente auch verständnisvolle, mitunter herzliche Kontakte zwischen Deutschen und Franzosen, besonders bei Einquartierungen. Der Krieg erscheint daher nicht als „durchgehend von Nationalhass geprägter Kampf der Völker“ (S. 111 f.). In der Besatzungszeit werden deutsche Soldaten dann immer stärker gemieden und teilweise offen angefeindet. Umgekehrt rückt Mario Kramp die Begegnungen zwischen französischen Soldaten und deutscher Zivilbevölkerung in den Blick. Er zeichnet den harten Kölner Lageralltag französischer Kriegsgefangener nach, geprägt von Nahrungsmangel, Krankheit, Heimweh, Arbeit und viel Langeweile. Gottesdienste, Musik und Theater boten Ablenkung und Kontaktmöglichkeiten zur Kölner Bevölkerung. So galten die Aufführungen einer Offenbach-Operette in der Deutzer Kaserne nach zeitgenössischen Berichten für „allabendlich ausverkauft“ (S. 123). Kolonialsoldaten dagegen wurde neben Neugierde vor allem offener Rassismus entgegengebracht. Daran schließt sich die Studie von Joachim Oepen über die katholische Kirche in Köln an. Zahlreiche Priester zogen als Feldgeistliche in den Krieg, andere halfen bei der Krankenpflege. Oepen zeigt eindrücklich die Auswirkungen des Kriegs auf Köln, das als Knotenpunkt den Transport deutscher und französischer Soldaten bewältigte. Stolz über die Siege und Beklemmung über Verletzungen und Verluste standen hier eng nebeneinander.
Im zweiten Teil des Bandes geht es um wissensgeschichtliche Dimensionen. Frank Becker zeigt, wie stark in Deutschland rassistische Deutungsmuster bereits im Krieg 1870/71 in Umlauf waren, oft verknüpft mit dem Gegensatz von Germanen und Romanen und mit konfessionellen Zuschreibungen. Diese Muster prägten nicht den gesamten Diskurs, waren aber auf beiden Seiten des Rheins wirkmächtig. An diese Befunde anschließend zeigt Corentin Marion, wie Debatten von deutschen und französischen Gelehrten über die nationale Zugehörigkeit des Elsass neben sprachlich-kulturellen auch rassenkundliche Kategorien aufgriffen. Deutlich wird die Rolle des Kriegs als Katalysator für die Ausbildung eines Nationsverständnisses auf beiden Seiten des Rheins sowie die Rolle, die Transfers dabei spielten. Julia Letow zeichnet am Beispiel der Bonner Medizinischen Fakultät die breite Einbindung von Ärzten und Studierenden in der Versorgung von Verwundeten nach. Die Motive für das Engagement reichten von Patriotismus und Karriereambitionen bis zu professionellem Pflichtverständnis und dem Wunsch nach praktischer Erfahrung. Nach 1871 setzten sich diese Aktivitäten in Forschungsvorhaben fort, etwa mit experimentellen Untersuchungen zu Verletzungen durch das französische Chassepotgewehr.
Im dritten Teil geht es um Kriegsberichterstattung und Publizistik. Jürgen Herres zeigt Karl Marx und Friedrich Engels als aktive Publizisten des Kriegs und der Pariser Kommune. Paul Mellenthin beschreibt die technischen Grenzen der Kriegsfotografie. Aufbauzeiten und lange Belichtung verhinderten meist die Abbildung des Ereignisses selbst. Die Fotografen kamen - wie Historiker - „immer zu spät“ (S. 271). Thomas F. Schneider zeigt, wie Zeichnungen, Karikaturen und Gemälde durch ihre leichtere Reproduzierbarkeit das Bild vom Krieg prägten und eine weitgehend homogene Berichterstattung begünstigten.
Der vierte Teil des Bandes ist mit „ästhetischen und kulturellen Aneignungen“ überschrieben, wobei es zunächst nahtlos mit einem Beitrag zur Malerei weitergeht. Katja Protte zeigt überzeugend, wie die Malerei bei der Kriegsbewältigung in beiden Ländern unterstützte. Während in Frankreich die Niederlage in nationale Größe umgedeutet wurde, inszenierte das siegreiche Deutschland seine Triumphe und vermeintliche kulturelle Vorherrschaft. Im Unterschied zu Frankreich dominierten in Deutschland Personendarstellungen die Militär- und Schlachtenmalerei. Um 1880 kulminiert das Genre und verliert danach an Gewicht, auch wenn die Bilder die Erinnerungen bis 1914 prägten. Ralf-Olivier Schwarz rekonstruiert das Kölner Musikleben als Resonanzraum eines deutsch-französischen Kulturkriegs. Philipp Hoffmann untersucht die Gründung der zweitältesten Kölner Karnevalsgesellschaft, die Kölner Funken-Artillerie blau weiß. Dabei zeigt er auf, dass bei den Blauen Funken neben Spott auf die Preußen zugleich viel begeisterte Verherrlichung des preußisch-deutschen Kaiserreichs mitschwang.
Die drei Beiträge in Teil V schließlich richten den Blick auf Erinnerungskulturen beider Länder und ziehen dabei den Bogen bis in die heutige Zeit. Oliver Schulz differenziert am Beispiel der Belagerung von Belfort konkurrierende Deutungsstränge der Erinnerung zwischen Tapferkeit, Opfergedenken und republikanischer Gründungsmythologie. Tobias Hirschmüller erschließt quellennah Reichsgründungsgedenken, Bismarckgeburtstage und Sedanfeste in Köln. Eva Muster schließlich analysiert kuratorische Programmierungen historischer Ausstellungen und zeigt, wie sich die multiperspektivische Erweiterung der Forschung über den Krieg genau wie regionale Perspektiven auch in den inhaltlichen Schwerpunkten der Ausstellungen niederschlagen.
In Summe bietet der Band einen substanziellen und methodisch reflektierten Beitrag zur Geschichte des Kriegs von 1870/71, besonders für den Raum Köln-Bonn. Die bilateralen Zugriffe und die regionalgeschichtlichen Studien tragen maßgeblich zum Erkenntnisgewinn bei. Naturgemäß deckt der Band nicht alle Felder vollständig ab. Stärker ausgebaut werden könnten etwa der Blick auf Frauen (der in einzelnen Beiträgen durchaus vorkommt), oder Männlichkeiten und Körper, der in der französischen Forschung derzeit eine wichtige Rolle spielt, sowie kolonialgeschichtliche Verflechtungen. Die transnationalen Perspektiven bleiben überwiegend auf Deutschland und Frankreich begrenzt und öffnen andere geografische Räume nur randständig. Der reiche Bildteil mit zahlreichen bislang wenig bekannten Fotografien und Abbildungen erhöht den Nutzwert. Wer sich mit dem Krieg von 1870/71 befasst, wird die Lektüre zu schätzen wissen.