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David Passig
Celum celi domino, terram autem dedit filiis hominum. Der Mensch als Gestalter der Geschichte bei Otto von Freising
(Orbis mediaevalis 21), Göttingen 2025, V&R unipress, 387 Seiten
Rezensiert von Roman Deutinger
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 12.12.2025
Über Bischof Otto von Freising († 1158) und sein großes Werk über die „Geschichte der zwei Staaten“ – nämlich des guten Gottesstaats und des bösen irdischen – von Anbeginn der Welt bis zu ihrem Ende ist schon viel geschrieben worden, und nicht alles davon ist wirklich lesenswert. Seit der bahnbrechenden Untersuchung von Hans-Werner Goetz über Ottos Geschichtsbild von 1984 gibt es zwar eine Reihe von Exemplifizierungen und Vertiefungen zu diesem Generalthema, aber kaum wirkliche Neuansätze. Einen solchen findet man hingegen in der vorliegenden Dissertation, die einen von Peter Segl vor Jahren geäußerten Gedanken aufgreift und gewissermaßen noch eine Ebene tiefer einsteigt, indem sie Ottos Bild von der menschlichen Existenz schlechthin zu ermitteln sucht. Das ist keineswegs ein Nischenthema, denn dieses Menschenbild bildet ja letztlich erst die Voraussetzung und Grundlage für sein Geschichtsverständnis.
Die Arbeit gliedert sich in drei ungefähr gleich lange Abschnitte, von denen der erste unter dem Titel „Der Mensch und Gott“ Ottos Sicht auf das Spannungsfeld zwischen dem freien Willen des Menschen und der göttlichen Vorsehung auslotet, also ein Grundproblem aller Theologie seit den Kirchenvätern. Ottos Ontologie zufolge ist der Mensch ein Mängelwesen, zwar fähig zu rationaler Erkenntnis, aber auch und noch mehr fähig zur Sünde. Seine Hinfälligkeit ergibt sich bereits aus seiner physikalischen Beschaffenheit, und die einzige Chance für ihn, sich daraus zu befreien, ist es, „den menschlichen Mangel einzusehen und sich Gott, dessen Gnade allein diesen Mangel beheben kann, zuzuwenden“ (S. 130). Der zweite Abschnitt „Der Mensch und die Welt“ betrachtet die sich daraus ergebende Forderung nach Verachtung der irdischen Dinge. Diese bedeutet für Otto keineswegs radikale Entsagung, sondern vielmehr bloß, sich nicht mehr als unbedingt nötig mit den vergänglichen weltlichen Dingen abzugeben. Das Mönchtum bildet mit seiner bewusst gewählten Abgeschiedenheit von den Zeitläuften zwar Ottos Ideal, doch legt er sich, selber dem Zisterzienserorden angehörend, keineswegs auf eine bestimmte Ordensregel fest, sondern begrüßt im Gegenteil die vorhandene, zu seiner Zeit keineswegs unumstrittene Vielfalt religiöser Lebensformen. Überhaupt kommt es ihm bei der Ausrichtung des Lebens auf Gott nicht so sehr auf die äußere Form an als vielmehr auf die innere Haltung, mit der sie geschieht. Der dritte Abschnitt „Der Mensch und die Kirche“ betrachtet dann Ottos Ekklesiologie. Dabei meint „ecclesia“ für ihn keineswegs nur die Amtskirche, sondern die gesamte Christenheit, und ihre historische Entwicklung ist „das sichtbare Zeichen des Wirkens der Gnade Jesu Christi in der Geschichte“ (S. 254). Anders als Augustinus, der bekanntlich das Vorbild für die Zwei-Staaten-Lehre abgibt, sieht Otto deshalb die „civitas Dei“ seit der Geburt Christi schon im Diesseits verwirklicht, wenngleich sie hier noch nicht zur Vollkommenheit gelangt ist, sondern sich erst allmählich auf dieses Ziel hin entwickelt. Daraus ergibt sich eine Parallelisierung des einzelnen Menschenlebens mit der Menschheitsgeschichte insgesamt, der Lebensalter mit den Weltaltern, der geistigen Reifung des Individuums mit dem Fortschreiten der Gotteserkenntnis im Rahmen der Weltgeschichte – geradezu eine „Anthropologisierung der Geschichte“ (S. 279). Insofern entspricht das Psalmzitat im Titel des Buchs mit seiner klaren Unterscheidung zwischen einer göttlichen Sphäre im Himmel und einer menschlichen auf Erden wohl nicht ganz Ottos Intentionen. Jedenfalls zeigt sich in allen Themenbereichen, dass Otto die Gedanken seines Vorbilds Augustinus keineswegs sklavisch übernimmt, sondern sie zeitgemäß interpretiert. Bis in Einzelheiten hinein kann man seine Auseinandersetzung mit den damals modernsten theologischen Strömungen verfolgen, mit den Schriften zeitgenössischer Denker wie Hugo von St-Victor († 1141), Gilbert von Poitiers († 1154) oder Thierry von Chartres († 1155/56).
Schon die voranstehende, angesichts der Komplexität des Gegenstandes eher holzschnittartige Zusammenfassung der Ergebnisse dürfte zeigen, wie gründlich und gleichzeitig differenziert der Autor sein Thema behandelt, wie feinsinnig er Ottos eigene Gedanken herausarbeitet und sie in den zeitgenössischen Diskursen verortet. Deshalb kann man die Untersuchung streckenweise geradezu als eine Einführung in die Theologie des 12. Jahrhunderts lesen, zumal darin neben den oben genannten auch noch weitere zeitgenössische Denker berücksichtigt werden. Vom weiten Horizont der Darstellung und von der Gründlichkeit der Herangehensweise zeugt zugleich das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis. Hinzu kommt eine präzise und gleichzeitig angenehme Sprache, die den Leser gekonnt durch das Dickicht theologischer Subtilitäten lotst. So bildet das Buch eine zwar anspruchsvolle, aber durchaus bereichernde Lektüre, und das ist, wie eingangs festgestellt, für einen Beitrag zu Otto von Freising keineswegs eine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht für eine akademische Erstlingsarbeit.