Aktuelle Rezensionen
Berndt Hamm
Religiöse Dynamik zwischen 1380 und 1520. Antriebskräfte der Mentalität, Frömmigkeit, Theologie, Bildkultur und Kirchenreform
(Spätmittelalter, Humanismus, Reformation/Studies in the Late Middle Ages, Humanism, and the Reformation 140), Tübingen 2024, Mohr Siebeck, XXII + 591 Seiten
Rezensiert von Norbert Jung
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 12.12.2025
Berndt Hamm, emeritierter Lehrstuhlinhaber für Neuere Kirchengeschichte an der FAU in Erlangen, vereinigt im vorgelegten Band diverse Studien, die zumeist bereits an anderer Stelle veröffentlicht wurden, ohne dass damit der Anspruch erhoben wird, ein kompaktes Lehrbuch vorzulegen. Lediglich zwei Kapitel wurden neu verfasst. Der Autor vertraut zu Recht auf die Aussagekraft der von ihm exemplarisch ausgewählten Beispiele, wobei er die Wichtigkeit der dargestellten Querverbindungen zu religiösen Bildwerken betont. Darin liegt schon ein erster Hinweis auf das in diesem Buch vielfach zu bemerkende Verständnis für Ansätze katholischer Frömmigkeit, das man sonst häufig in Werken zur Reformationsgeschichte vermisst.
Zunächst bietet der Autor einen Überblick über die „religiöse Dynamik“ des Spätmittelalters. Es ist ihm ein Anliegen, durch die zugrunde gelegte Kategorie der „Dynamik“ das Epochendenken in der Kirchengeschichte zu überwinden, demzufolge das Spätmittelalter häufig in Kategorien wie Niedergang und Erstarrung, die Reformation jedoch umso heller als Aufbruch, Fortschritt, Beginn eines neuen Zeitalters u.ä. beschrieben wurde. Hamm betont demgegenüber den engen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen dem Spätmittelalter und der Reformation und stellt fest: „Ausgerechnet diesen ‚Vorabend‘ der Reformation in vielerlei Hinsicht als höchste Kulmination religiös-kirchlicher Dynamik zu sehen, übersteigt wohl die Vorstellungsfähigkeit des allgemeinen kulturellen Gedächtnisses“ (S. 31), denn es habe „keine Antriebskraft der Reformation“ gegeben, „die nicht eine Verankerung oder disponierende Voraussetzung im 14. oder 15. Jahrhundert hatte“ (S. 93). Das Verdienst des vorliegenden Buches liegt darin, einen Schlüssel für die Überwindung dieses hierzulande tatsächlich oft höchst einseitig geprägten „kulturellen Gedächtnisses“ zu bieten. Hamm stellt fest, dass die Reformation „keineswegs die universalgeschichtliche Tragweite“ (S. 98) hatte, die man ihr gemeinhin zuschreibt. Er bezeichnet daher folgerichtig das „Pathos der Zeitenwende“, mit dem man 2017 das Reformationsjubiläum umgeben habe, als kirchenpolitisch instrumentalisiert.
Seine These begründet der Autor anhand der theologischen Dynamik des 15. Jahrhunderts: Es habe sich um eine bis dahin unbekannte Ära der Verbreitung, Entgrenzung und Laisierung der Theologie gehandelt, u.a. bedingt durch eine allgemeine Steigerung des Bildungsniveaus und der Verfügbarkeit des Buchdrucks. Man kann gar nicht oft genug betonen, dass es vor Luther bereits 18 Druckausgaben deutscher Vollbibeln (!) gegeben hat, ganz abgesehen von noch mehr „funktionsorientierte[n] Teilübersetzungen“ (S. 129). Mit der zugrundeliegenden Synthese von Theologie und Alltagsfrömmigkeit (Stichwort: „Frömmigkeitstheologie“) ist ein Tenor des Forschungsinteresses Hamms beschrieben, der nicht nur in diesem Sammelband häufig wiederkehrt. Die Reformation habe diese Syntheseformen in vielen Punkten weitergeführt. Damit möchte der Autor auf deren Komplexität hinweisen, ohne die damit verbundenen Umbrüche leugnen zu wollen.
In diesen Zusammenhang gehört die von Hamm geschilderte „Dynamik von Barmherzigkeit, Gnade und Schutz“. Die universale Eschatologie des Jüngsten Tages sei im Spätmittelalter durch die Naheschatologie der Todesstunde überblendet worden. Spiegelbildlich dazu hätten sich vielfältige Formen der „nahen Gnade“ des barmherzigen Gottes entwickelt, die ihren Niederschlag in Bildinnovationen wie etwa des Gnadenstuhls, des Schmerzensmanns, der Ölbergszene oder des Jesuskindes gefunden hätten. Am Beispiel des Bopfinger Altars von 1472 entfaltet der Autor anhand der Vervielfältigung, Steigerung, Abstufung und Zentrierung bildhafter Medien seine These von der Frömmigkeitsdynamik jener Epoche. Er betont, dass die Zentralstellung Mariens im Altar keine Relativierung Christi darstelle, sondern die Folge ihrer Demut als Magd des Herrn sei. Es handle sich beim Bopfinger Retabel um eine beispielhafte „Veranschaulichung der himmlischen Heils- und Gnadenmächte und ihrer hilfreichen Nähe“ (S. 256). Nicht das Gericht, sondern das Erbarmen stand als Antwort auf die Diesseits- und Jenseitsängste der Gläubigen im Zentrum. Um diese Inhalte unters Volk zu bringen, dienten „Frömmigkeitsbilder“ als Medium. Wesentlich ging es um die Visualisierung von Vertrauen und Hoffnung. Als weiteres Beispiel schildert Hamm die „ars moriendi“ im Sinn einer Lebensheiligung im Angesicht des sicheren Todes. Die von den Gläubigen zu leistenden Anforderungen seien dabei immer mehr minimiert worden, während der Aspekt der Gnade immer mehr betont worden sei. Erst Martin Luther habe den „Quantensprung vom Minimum zum Nichts“ (S. 339) in die Frömmigkeitsgeschichte eingebracht.
Auf den Punkt bringt Hamm seine These im Kapitel „Entgrenzungsdynamik des Ablasses und die Reformation“ (vgl. dazu die Monografie: Berndt Hamm, Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016). Einleitend beschreibt er in einem brillanten Überblick den Ablass als „Idee einer großen geistlichen Solidar- und Stellvertretungsgemeinschaft“ sowie als „große Entängstigungs- und Entlastungsstrategie der Kirche“ (S. 345) und betont das zugrundeliegende seelsorgerliche Anliegen. Die klassische Auffassung, die Reformation und das Ablasswesen verhielten sich wie Feuer und Wasser zueinander, sei nur die halbe Wahrheit – es sei auch ein „Zusammenhang tiefgehender Gemeinsamkeiten“ (S. 352) erkennbar. „Keiner hat jemals einen so vollkommenen Ablass verkündigt wie Luther“, konnte daher bereits Robert Bellarmin formulieren. Hamm kennzeichnet sechs Antriebskräfte, die das Ablasswesen mit den Ursprungsimpulsen Luthers verbinden (S. 355-361) sowie fünf Punkte, weshalb gerade der Ablass zum Bruch führte (S. 361-363). Eine wesentliche Folge der Reformation war sicher der Abbruch der Verbundenheit der Lebenden mit den Verstorbenen; die Abschaffung von Ablass, Fegefeuer, Messe und Wallfahrt negierte bis dahin wesentliche Elemente der Frömmigkeit wie die Heilsvorsorge bzw. Jenseitsfürsorge. Aufgrund der aufgezeigten „Langzeitzusammenhänge“ habe es sich bei der Reformation jedoch nur um einen „partiellen Umbruch“ gehandelt, von einer Epochenzäsur könne keine Rede sein.
Diese Grundthese wird in weiteren Kapiteln etwa anhand von religiösen Einblattdrucken oder der erstaunlichen Zunahme von Nahwallfahrtsorten weiter entfaltet. Da die einzelnen Themenfelder jeweils im Hinblick auf die Grundthese der „nahen Gnade“ bzw. der „Frömmigkeitstheologie“ beleuchtet werden, waren Redundanzen wohl unvermeidbar, hätten jedoch bei der Überarbeitung zur Zusammenfassung der Beiträge des vorliegenden Bandes noch etwas besser gestrafft werden können. Es gelingt dem Verfasser überzeugend nachzuweisen, dass die zunehmende Betonung der Leichtigkeit des Heilswegs um 1500 quasi in der Luft lag. Die Belege sind häufig aus dem Bereich des heutigen Bayern und angrenzenden Gebieten genommen, wie etwa für das „Wallfahrtsfieber“ des 15. Jahrhunderts (Dettelbach, Vierzehnheiligen, Iphofen, Deggendorf usw.) sowie die Lokalheiligenkulte (Sebald, Deocar, Simpert, Stilla).
Eine englischsprachige Zusammenfassung, ein vierzigseitiges Literaturverzeichnis (darunter 62 Titel und sechs Mitherausgeberschaften von Hamm selbst) sowie sorgfältig gearbeitete Register schließen den Band ab, der von 46 instruktiven Abbildungen illustriert wird.
Dem Verfasser ist sicher Recht zu geben: „Epochenkonstrukte blockieren die Wahrnehmung von grundlegenden geschichtlichen Kontinuitäten.“ (S. 498) Im Spätmittelalter bildeten „innere“ und „äußere“ Devotionsformen oft zwei Seiten der gleichen Medaille: „Werkgerechtigkeit“ konnte sich mit tiefem Vertrauen auf das Erbarmen Gottes verbinden. Durch seine in diesem Band zusammengefassten Forschungen gelingt es Hamm anhand sorgfältig ausgearbeiteter frömmigkeits- und kunstgeschichtlicher Beobachtungen zu einem neuen und besseren Verständnis einer oft nur einseitig und holzschnittartig dargestellten Epoche der Kirchengeschichte beizutragen. Als katholischer Theologe habe ich mich in einem Werk protestantischer Kirchengeschichtsschreibung selten so verstanden gefühlt wie bei der Lektüre des vorliegenden Sammelbandes. Das Buch hat daher über den historischen Erkenntniszuwachs hinaus das Potential, zu einem besseren gegenseitigen Verständnis in ökumenischen Fragen der Gegenwart beizutragen. Schon allein deshalb ist ihm eine weite Verbreitung und Rezeption zu wünschen.